1  -  Brumschedl wird Mensch und geht aufrecht

 

 

Er hieß immer schon so: Brumschedl. Und deshalb war es müßig zu überlegen, wie seine Vorfahren getan haben mussten, um ihm die Strafe dieses Namens zu hinterlassen.

Namen sind Erbsünden.


Kaum hatte seine Kindheit mit dem Abenteuer Sprache begonnen, nützten die Altersgefährten hemmungslos ihre neugewonnene Macht. „Brummi“ sagten die Einen, Wohlgesonnenen, „Säuferplutzer“, „Migräne-Zombie“ oder „Aspirin-Bärli“ nannten ihn die besonders Kreativen als er noch zur Schule ging. Gymnasium, versteht sich.

Jetzt ist er selber Lehrer - der Mutige! – und seinen Pflichtschülern fiel nur mehr „Hirnschüssler“ im Allgemeinen oder „Boxerbirne“ bei besonderen Fantasieschüben ein.

 

Solche Gelegenheiten verknüpfte er stets mit dem Nützlichen und erklärte den lieben Kleinen die Bedeutung des Doppel-M und des Umlautes Ä und dass die in seinem Namen nicht vorkämen, wodurch er folglich gar nicht so hieß wie sie zu meinen glaubten. Mit derlei kniffligen Argumenten kam er aber nicht durch.

Dass er einfach zurückschlug und etwa den Josef Hirnich in der ersten Bank „Ganglien-Pepi“ oder die kleine Gaugusch Claudia hinten beim Fenster mit „Kusch Gaudia!“ begrüßte, das war nicht seine Art. Dann wäre auch der Markus Rehaud schön still gewesen, und die schüchterne Brausewetter Sophie hätte gelernt, wie man sich gegen unfaire Lustigmacher wehrt.

Aber Brumschedl wollte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Und bei Mohammed Swoboda hätte er ohnehin vielleicht sogar seine Hinrichtung riskiert.


Brumschedl blieb fair.

Immerhin hatte er schon vor 20 Jahren den Schülern Friedensprojekte beschert und dabei gelernt, dass Undank der Welten Lohn ist und man selbst mit gutem Beispiel voranzugehen habe, um diese Welten wenigstens ein bisschen zu bessern. Obwohl die Schüler undankbar gewesen waren und sich die Friedensbroschüren gegenseitig unsanft um die Löffeln gefächert hatten, war er von der Hoffnung beseelt gewesen, seine Schüler und Schülerinnen würden später auch einmal so denken wie er – dann, wenn sie nach Schulaustritt reif genug dazu sein würden.

Aber er hörte nichts mehr von ihnen.


Schließlich haben Versicherungsvertreter, Schiffsstewards, geschiedene Alleinerzieherinnen, Werbemanager, Grundstücksmakler oder gar Damenhändler im finsteren Milieu keine Zeit und auch keine Lust, dem alten Brumschedl mit seinem braven Gemüte zwecks Rechtfertigung ihres Lebensweges unter die Augen zu treten. Das Leben hatte sich ihnen nämlich irgendwie anders präsentiert als im Friedensprojekt.

 

Brumschedl macht seine Arbeit, ist pünktlich und genau, stets gut vorbereitet  (in einer langen Dienstzeit kommt schließlich eine Menge Arbeitsblätter zusammen!) - manche sagen, er wäre gerecht, aber leider zu weich. Gerechte müssen nämlich auch hart sein. Sagen die Leute. Und wenn jemand zu ihnen hart ist sagen sie: Der ist ungerecht!


Doch Brumschedl ist auch hart. Hart gegen sich selbst. Selbstdisziplin und Zurückhaltung, Loyalität und Verzicht, Genügsamkeit und Respekt waren stets die Pfeiler, auf die seine Vorgesetzten bauen konnten (und das taten sie denn auch!).

Die Schüler hielten ihn für blöd, doch sie waren bloß unreif, denn sie hörten diesen voreiligen Befund wahrscheinlich nur von ihren Eltern nach dem ersten Sprechtag und plapperten es unreflektiert nach. So dachte zumindest Brumschedl.

 

Brumschedl war immer korrekt, beflissen und naiv. Er war also ein Berufener. Aber nicht für das privatwirtschaftliche Terrain. Er musste Lehrer werden!

 

Ein einziges Mal in seinem Dasein  hatte ejedoch wirklich Angst, seiner Berufung nicht gerecht zu werden. Das war, als sich neulich der unbezähmbare Trieb meldete, hemmungslos Menschlichkeit zu zeigen:

Der Rene – der Nachname war Brumschedl noch nicht geläufig, Rene war ein Neuer, ein Repetent (was will man da schon erwarten?) – dieser Rene schoss seine Füllhalterpatronen nach entsprechender Manipulation der Plastikhülse gezielt auf die herausgeputzten Mädchen und verursachte dank seiner Wurfungenauigkeit eine blaue Verwüstung auf dem Fußboden. Brumschedl ging vorerst nur auf den Umweltgedanken ein und mahnte den Unhold zur Sauberkeit innerhalb einer Gemeinschaft.

Das flotte Bürschchen aber betonte seine Unschuld, da es ja nicht beabsichtigt war, den Boden zu beschmutzen, sondern vielmehr die süßen Mädchen. Brumschedl schwenkte – mit bebendem Ungemach in der Stimme – zum Thema „Aufrichtigkeit nach einem Fehlverhalten“, betonte seine Abscheu für feige Ausreden und stellte dem Miststück (ja, Brumschedl dachte „Miststück“!) in Aussicht, den ganzen Nachmittag Boden putzen zu müssen.

 

„Das geht nicht.“ sagte das repetierende Miststück, „Ich bin heute bei meinem Vater.“

„Na schön,“ erwiderte Brumschedl vorschnell, „dann putzt du eben nur eine Stunde und den Rest dann morgen.“ Und weil er gerade den Fehler begangen hatte, sich herunterhandeln zu lassen, wollte er es wieder gut machen und fügte süffisant hinzu: „Da ist die Tinte dann schon eingetrocknet!“

„Eben!“ reagierte der freche Rotzbengel blitzschnell, „da geht sie dann sowieso nicht mehr weg!“

Und um dem pingeligen Deppen da vorne den letzten Tiefschlag zu versetzen, ergänzte er noch hurtig: „Wozu haben wir eine Putzfrau?“ Er wusste genau, dem „Hirnschüssler“ fehlte jetzt die Luft, um eine Predigt über Menschenrechte von Putzfrauen zu halten.

Brumschedl fehlte tatsächlich die Luft, weniger die zum Bilden von Worten, sondern die zum Überlegen dieser Worte.

„Was stellst du dir eigentlich ein?“ sprudelte es hervor. Und um sein fehlgebildetes Satzkonglomerat zu überspielen: „Du führst dich hier auf wie ein Ferkel!“

Erst Ratlosigkeit, dann Gekicher in der Atmosphäre.

Das Rene lächelte (in diesem Moment war er für Brumschedl nur mehr sächlich).

„Was soll das jetzt? Was soll das sein?“ provozierte das sächliche Stück Knabe von oben herab.

Und hier, genau hier begann die Angst des Lehrers Brumschedl vor der Menschlichkeit.

Mit ganzer Kraft unterdrückte er die natürliche Logik, die nach Gewalt rief, und klammerte sich an die letzte Korrektheit des Lehrerseins.

„Typisch! Du weißt nicht einmal, was ein Ferkel ist?“ entfuhr es ihm viel zu laut, um noch als zynisch zu gelten.

Doch dann!

Das Unbeschreibliche, das Niederschmetternde, das Unausweichliche geschah. Brumschedl war am Ende. Die vorlaute Krätze aber nicht! Und der Mensch Brumschedl hörte die Botschaft, was ein Ferkel war:

„Ein Ferkel? Das weiß ich! Das ist der Sohn von einem Schwein – und ich will nicht, dass Sie meinen Vater schimpfen!“


Stille.


Somancher kühle und kühne Schelm hätte nun gekontert „Ich habe ja nicht deinen Vater gemeint, sondern deine Mutter.“ Doch nichts von dem geschah.

Brumschedl atmete ein und es entfuhr ihm mit einem Male ein inbrünstiges, aufrichtig empfundenes, aus tiefstem Herzen überzeugtes, erquickend ehrliches und wohlklingend lautes  „Arschloch!“ in die gespannte Atmosphäre.

 

Und siehe:

 

Brumschedl war plötzlich Mensch geworden!

 

Die Klasse war beruhigt. 

Wie lange aber würde Brumschedl den Bonus bei den Mitschülern halten können, die ihn zum ersten Male verstanden hatten, die zum ersten Male seinem Beispiel folgen wollten, die ihn zum ersten Male als Ihresgleichen erkannten – wie lange würde er von diesem Bonus zehren können?


Morgen wird er wieder nur Lehrer sein.


Wie dem auch sei - immerhin hatte er selbst für einen Moment erkannt, dass auch bei ihm nicht alles so sein musste wie es sein sollte und indem ihn fürderhin diese Erkenntnis gelegentlich beutelte, wenn er selbstreflektierend an das dachte, was er früher oder gerade jetzt erlebte, so erfasste ihn neuerdings eine Ahnung davon, dass sogar sein Leben geradezu abenteuerlich sein konnte.

 

Es galt Schatten zu überspringen!

Dies war die vorrangige Lektion, die er nun gelernt hatte.

 

Quasi als ökonomische Nebenerscheinung kam ihm auch die praktische Einsicht, keinen Schüler mehr repetieren zu lassen - sonst hat man das Ekel noch ein Jahr länger um sich!